Donnerstag, 3. November 2011

M83 - "Hurry Up We're Dreaming"

INFORMATIV
Messier 83: Spiralgalaxie. Nur fremde Welten zu beherbergen ist seit kurzem nicht mehr genug für diesen 15 Millionen Lichtjahre entfernten Sternencluster. Seit kurzem scheint sie ebenfalls als Muse und Inspirationsquelle für die beiden Herren von M83 zu dienen.
Offiziell handelt es sich bei den beiden Bandmitgliedern um Franzosen, jedoch versuchen sie schon seit dem ersten, selbstbetitelten Album diese musikalische Herkunft zu verschleiern nur um ihre Zugehörigkeit zu den entfernten Mineralnebeln der Eingangs erwähnten Spiralgalaxie umso stärker zu Untermauern.
Zu Beginn ihrer Karriere noch stark im Shoegaze Subgenre verwurzelt machte sich spätestens mit dem Drittwerk "Before the Dawn Heals Us" eine Wende in Richtung Pop bemerkbar. In diesem Spektrum zwischen Pop, Shoegaze und Electronica bewegend hatte man seine Nische gefunden und auch gut ausgefüllt, doch nun mit dem aktuellen Longplayer, dem Doppelalbum "Hurry Up We're Dreaming" ist es wieder Zeit für eine kleine Evolution im Kosmos. Denn obwohl man sich sowohl in Presse, Clubs und Online seine Sporen redlich verdient und eine ordentliche Fanbase aufbauen konnte wurden M83 nie ganz den Ruf der "zweiten Garde" los. Das ändert sich nun aber. Bestimmt.

OBJEKTIV
Kreativität ist trumpf. Auf diesem Album befinden sich soviele Instrumente, Soundcollagen, Rhytmus-muster und Klangeffekte wie sie schon lange nicht mehr auf einem einzelnen Album zu hören waren.
Hier in ihrer aktuellen Inkarnation präsentieren sich M83 als eine Art MGMT auf Space-koks. Denn dort wo MGMT mit ihrem Debut aufhörten geht für M83 das Abenteuer erst richtig los.
An allen Ecken und Enden zurrt, ziept, fiept, rauscht und pluckert es. Darüber liegen dicke Synthesizerschichten deren Regler stehts zwischen euphorisch und bombastisch eingestellt zu sein scheinen. Darüber erhöht erklingt die Stimme des Sängers fanfaren-artig hervorstossend oder methanflussartig zäh über den zahllosen Schichten der Songs.
Manchmal erinnert die Stimme des Sängers an den jungen Sting, dann widerum verlässt sie aber vocoder-verzerrt unser Sonnensystem.

SUBJEKTIV
Was für ein Augenöffner, was für eine Reise! Egal welche aktuelle Platte man vor "Hurry Up We're Dreaming" anhört, bestes Beispiel die Single "Midnight City", es wirkt als würde man von 50er Jahre schwarz-weiss Fernsehen auf technicolor Breitbild-Leinwand umsteigen. Alles ist bunter, schriller, interessanter, vielfältiger und größer als das Leben selbst. Epische Tiefe könnte man das nennen. Oder klangliche Oplunenz. Ich jedoch stelle mir lieber vor, dass es so sein muss, das wunderbare, unbekannte Leben in einem der Spiralarme von Messier 83. Erstaunlich abwechslungsreich ist es auch, das Leben dort im Weltall. Nicht jeder Song ein Popkracher wie die erste Single, auch atmosphärische Weltraumklänge und ruhige Klangmuster findet man wieder: "Where the Boats Go", "Train to Pluton". Aber auch heimische Fauna findet einzug auf "Hurry Up We're Dreaming". In "Raconte Moi" erzählt ein kleines Kind die unterhaltsame Geschichte von einem Frosch mit halluzinogen angereicherten Schleimhäuten. Ja, Sie haben richtig gelesen!
Mit "Hurry Up We're Dreaming" ist M83 der grosse Wurf gelungen. Eine ganz große Vision mit beeindruckendem Verlauf wurde hier festgehalten. Jeder Song eine komplexe Soundcollage, fast jeder Song ein kleines Juwel mit dem Potential für das Highlight der persönlichen Playlist.
Man wagt es kaum zu prognostizieren in den schnelllebigen Zeiten des Internetkonsums, aber ich bin felsenfest davon überzeugt: Diese Platte gehört zu den Besten ihres Jahrzents.


DIE FORMEL
((MGMT^2)/the Police) + Konzept

physisch : hier
digital : hier

10/10
Vielen Dank fürs Lesen,
Listen Long and Prosper!

M83 - "Steve McQueen"



Sonntag, 30. Oktober 2011

VIDEO - DYE "Fantasy"


DIE FORMEL
(nsfw + animation + wtf?! + gore + neverending story)


BOY - "Mutual Friends"

INFORMATIV
Boy sind Valeska Steiner und Sonja Glass, zwei junge Damen aus der Schweiz beziehungsweise aus Hamburg. Ihre erste Platte "Mutual Friends" wird auf Grönland Records, dem Label von Herbert Grönemeyer veröffentlicht. Dort befindet man sich in der Gesellschaft von Bands wie den Veteranen "Gang of Four", den Hipstern "Fujiya & Miyagi" oder dem Elektro-Popper "Merz". Man kann also festhalten, dass es durchaus einer Adelung durch die Geschäftsleitung gleichkommt sein erstes Album in diesem handverlesenen Kreis veröffentlichen zu dürfen.

OBJEKTIV
Pop. Schönheit. Leichtigkeit. Eingängigkeit. Vier Worte die Boy wunderbar zusammenfassen. Die Stimme von Frl. Steiner klingt oft wunderbar erwachsen und kann Worte nicht nur schön aussprechen, sondern sie mit Sinn und Inhalt versehen. Besonders charmant ist es dann, wenn in Songs wie "Oh Boy" die Stimme doch wieder etwas jugendlicher klingt. Ebenfalls auffällig ist, dass nicht in jedem Song ähnliche Gesangsstrukturen gesucht werden, sondern jedem Song auch durch den Gesang seine eigene Persönlichkeit verliehen wird. Nicht auch nur einmal beschleicht einen das Gefühl mit Last-Minute-Füllmaterial abgespeist zu werden. Am instrumentalen Spektrum des Albums finden sich eine Menge unterschiedlicher Töne wieder: Klavier, Akustikgitarre, Steel(?) Gitarre, Ziehharmonika, Bass, Tamburin, Drums, Triangel uvm. und an einigen wenigen Stellen auch elektronische Klänge und Noise, wie etwa das Rütteln von Eisenbahnwagons auf Schienen oder eben Fuzz. All diese Klänge werden jedoch nicht zusammengepfercht in einen einzelnen Song, sondern jedem Lied wurde eine Auswahl an Instrumenten zugewiesen, sodass auch auf musikalischer Ebene jeder Song seinen eigenen Charme und Charakter entwickelt.
Stilistisch gesellt sich Boy also zur Créme de la Créme aktueller Folkpopsängerinnen wie Leslie Feist, Tori Amos oder Charlotte Gainsbourg.

SUBJEKTIV
Ein "Mutual Friend" ist laut definition ein "gemeinsamer Freund", also sozusagen eine dritte Person die mit zwei anderen Menschen befreundet ist. Zu Beginn weiss man es noch nicht, in dem Augenblick in dem man die Musik anstellt, aber bald darauf erkennt man was für ein herrlicher Titel für diese Platte ausgewählt wurde! Denn spätestens nach dem ersten Durchlauf sind wir alle Freunde, die Songs, Valeska, Sonja und man selbst.
Die Lieder sind wunderbare Begleiter auf dem Weg ins Büro, auf der Autobahn, ebenso wie im heimischen Polstermöbel vor dem Kamin: sie schmiegen sich ans eigene Leben und wollen Teil davon sein. Wunderbar samtig empfindet man den Gesang und eingängig sind die Lieder, ohne das lästige Gefühl, welches sich bei Popsongs nur allzu häufig vom Hinterkopf durch die Gehirnwindungen ins Bewusstsein schleicht: "Das hab ich schon x-mal gehört!". Nein, die Songs von Boy wollen gehört werden, nicht einmal, nicht zweimal, immer wieder.
Meine Favoriten sind das melancholisch-wütende "Boris", das Aufbruchsstimmung verbreitende "Drive" und der feelgood Hit "Little Numbers".
Gern oute ich mich als BOYfriend.

DIE FORMEL
(Leslie Feist 2004 - Elektronik)

physisch : hier
digital : hier

8,5/10

Vielen Dank fürs Lesen,
Listen Long and Prosper!
 BOY - "Boris"


BOY - "Little Numbers"


Samstag, 22. Oktober 2011

MORRISSEY - "Bona Drag" Remastered

INFORMATIV
"Bona Drag" ist nun zwanzig Jahre alt und da die Popkultur nichts mehr liebt als sich selbst und selbstreferenzielles, gibt es nun anlässlich des Jubiläums eine klanglich ausgereiftere Neuauflage des Morrissey-Klassikers. Als eine von Morrisseys ganz großen Errungenschaften steht das Album in Internetfanforen natürlich immer an vorderster Front, wenn es darum geht den Höhepunkt in Morrisseys schaffen zu definieren. Insofern natürlich eine geschickte Wahl für eine Neuauflage, seitens der Plattenfirma.
Wie üblich hat sich das Label nicht lumpen lassen und ein bis zwei kleine Änderungen vorgenommen, sodass der "wahre Fan" auch wirklich in Erwägung zieht die Platte zum zweiten, oder sogar dritten Mal zu erwerben . In diesem Fall wurde das Albumcover von bunt in Richtung monochrom veredelt und zusätzlich gibt es die obligaten Bonus Tracks. Immerhin sechs Stück an der Zahl.

OBJEKTIV
Steven Patrick Morrissey, mittlerweile mit Legendenstatus versehen und längst im Kanon (zumindest) der britischen Popkultur angekommen zeigt sich hier von seiner besten Seite. Er croont,  droht, fleht, klagt an, pflichtet bei und wie immer steht er dank seiner wandelbaren Stimme mitten im Geschehen der Songs und fungiert als Erzähler in Gegenwartsform. Inhaltlich zieht Morrissey alle Register und legt hier schon alle Nuancen zugrunde, welche er in den nächsten 20 Jahren seiner Karriere auf diversen Alben weiterverfolgen wird. Der Bogen spannt sich vom leicht gay-subculture infizierten Glampop von "Picadilly Palare" über die gesungene Brieffreundschaft "der etwas anderen Art" in "Last of the Famous International Playboys", schreckt nicht vor der paranormalen Begegnung mit den Geistern der Vergangenheit in "Ouija Board, Ouija Board" zurück, findet seinen vorläufigen Höhepunkt mit der klassischen Morrissey-Feel-Bad-Hymne "Everyday is like Sunday", einem Song der auch den schönsten Ferientag in ein formloses, graues Ungetüm verwandelt. Kontrovers darf man auch über "Bona Drag" diskutieren, wenn man denn möchte, handelt es sich doch bei einem "Suedehead", der Titel eines der schönsten Songs auf dieser Platte, um ein Mitglied einer Skinhead Subgruppierung.

SUBJEKTIV
"Mutter, lass mich in Ruh, nur Morrissey versteht mich jetzt!", so oder so ähnlich muss es klingen wenn 14jährige Teenager ihre Zimmertür zuschlagen und sich in ihre emotionale Welt zurückziehen. Merkwürdig vertraut ist diese Resonanz in mir, denn auch in meinen Zwanzigern fühle ich mich nicht anders sobald ich die Schallplatte auflege und Morrissey zu singen beginnt. Wie kein zweiter versteht es Morrissey sowohl Männer als auch Frauen an seine Weltsicht heranzuführen und Ihnen dadurch fast schon therapeutische Hilfestellung zu Teil werden zu lassen. Geschlechterunabhängig eint er seine Fans unter der Flagge der emotionalen Freiheit.
Nach all den Jahren ist diese Platte immer noch eines der prächtigsten Schmuckstücke in meiner Sammlung und hat auch in Form dieser Neuauflage nicht an Faszination verloren. Die Frage ob sich die erneute Anschaffung lohnt, muss ich mir nicht stellen, denn ein solch umfangreiches Stück Musik, geformt zu gleichen Teilen aus Arbeit, Liebe und Vision kann man nicht in "zu guter" Tonqualität besitzen.
Wer sich näher mit Morrisseys Solowerken auseinandersetzten möchte kommt ohnehin um diese Platte nicht herum.

DIE FORMEL
(Frank Sinatra ca. 1989*David Bowie ca. 1973)

physisch : hier
digital : hier

10/10

Vielen Dank fürs Lesen,
Listen Long and Prosper!

MORRISSEY - Everyday is like sunday



MORRISSEY - Ouija Board, Ouija Board




Mittwoch, 19. Oktober 2011

KRAFTKLUB - "Adonis Maximus" ep


INFORMATIV
Fünf Freunde sollt ihr sein. Sprachs, getan! Kraftklub sind also ein Chemnitzer Quintett, kokettieren gerne, ua. auch damit nicht aus "Chemnitz", sonder "Karl-Marx-Stadt" zu stammen, verunglimpfen nebenher die Kronjuwelen diverser Subkulturen oder stellen einfach mal den klassischen Generationskonflikt auf den Kopf. Ganz und gar keine Leisetreter also.
Die Frage nach der Lagerzugehörigkeit wird in Interviews gerne einmal abgewimmelt, man kann jedoch anmerken, dass der Sänger/Rapper Felix Brummer schon einige Jahre in der deutschen HipHop-Subkultur unter dem Pseudonym "Bass Boy" verbrachte, während der Rest der Gruppe unter dem Namen "Neon Blocks" ebenfalls schon länger in der (diametral-konträr ausgerichteten) deutschen Indiesubkultur firmierte. Nach vollzogener Fusion stellt man nun "Kraftklub" dar und präsentiert das Neugeborene:
"Adonis Maximus".

OBJEKTIV
Möchte man die ep "Adonis Maximus" in Zahlen ausdrücken, sähe das so aus: Acht Tracks, knappe fünfundzwanzig Minuten. Das macht laut Adam Riese: 3,125min pro Song. Perfektes Popformat also. Gitarrenpop im Postpunkgewand wohlgemerkt!
Denkt man an erfolgreiche Bands der letzten zehn Jahre aus dieser Kategorie kommt einem automatisch Franz Ferdinand in den Sinn, und das ist nicht unbegründet. Der Sound ähnelt dem des schottischen Quartetts ungemein: vom charakteristischen Gitarrentwang zu den trockenen Drums über die verspielten Soloausflüge des Basses: die Anleihen sind nicht von der Hand zu weisen. Felix Brummers Sprachgesang jedoch hebt die Bandpersönlichkeit soweit vom vermeintlichen Original ab, dass man kaum noch von einer Kopie sprechen kann. 
Überhaupt sind die Sprach- und Reimgewohnheiten, sowie  Sprachkapriolen der Frontmanns äußerst interessant. Manchmal lässt er sich dazu verleiten seine Stimme dem Song anzupassen, dann jedoch wird die Strophe überdehnt, ja fast schon annuliert, nur dem Gag in der Lyric zuliebe. Als Draufgabe wird gewimmert, geheult und ab und an der stimmliche Bogen bis zur Überdehnung gespannt, was den Songs aber immer unter die Arme greift, anstelle zum Effektgewitter zu verkommen. 
Wenn man wollte könnte man der Band eine gewisse inhaltliche Schizophränie attestieren, was vor allem daran liegt, dass sich über den Verlauf der Platte hinweg irrwitzigerweise ausgerechnet pubertärer Fäkalhumor mit pointiert-überschärften Analysen bzw. Karikaturen der grossen Themen wie zB.: Liebe oder Ruhm befinden.
Man wird auch ein bisschen den Verdacht nicht los, dass hier der "intellektuelle Überbau" vorhanden ist, wirkt doch alles ZU durchdacht ZU stromlinienförmig, als dass es natürlich gewachsen sein könnte. Gut möglich, dass einige dieser jungen Herren eines fernen Tages den Sprung in die Theaterlandschaft oder in sogenannte seriöse Medien wagen, á la Fehlfarben.

SUBJEKTIV
Spaß.Spaß.Spaß. Das empfinde ich. Zumindest ab dem zweiten Track denn leider finde ich verleitet das Intro nicheinmal ein bisschen zum Schmunzeln.
Die Jungs nehmen in "Fotos von mir" den angestrebten Ruhmesolymp nicht nur schonmal vorweg, sie überspringen ihn gleich um beim Überdruss desselbigen zu landen... einen Schritt zurück gehts dann bei "Zu Jung". Denn hier wird der adoleszente Generationskonflikt mit den überlebensgrossen Eltern zur Hymne an die Aussichts- und Hilflosigkeit des jugendlichen Individuums. Ich kann auch hier nicht anders als mich herrlich Unterhalten zu fühlen, sei es nun ob der eingedeutschten klassischen Rock'n'Roll Texteilen "Hey, Joe, wohin rennst du mit der Knarre?" oder "Jeder tanzt den Gefängnisrock" oder ob des Refrains "Unsere Eltern kiffen mehr als wir/ Wie soll man rebellieren?/Egal wo wir hingehen, unsere Eltern warn schon eher hier..." Als hörer wird man beim aufmerksamen Hinhören immer wieder mit schmunzeln oder kleinen Gedankenanstössen belohnt. So geht Entertainment 2011. 
Im Anschluss folgt der 3:22min Fäkalwitz "Scheissindiedisco", den man leider nur bis zum dritten Durchgang noch lustig findet, ab dann wirds mühsam.
Für mich persönlich das Highlight der Platte ist wohl der Song "Liebe" in dem ein liebeskranker Protagonist karikiert wird. Garniert wird der herrlich überzogene Inhalt mit den zuvor angesprochenen Sprachkapriolen, die die Stimmung jeder einzelenn Textzeile entweder unterstreichen oder ironisch zunichte machen. Der Track ist ein Erlebnis und definitiv eine ungemeine kreative Leistung. Grosses Kopfkino.
Musikalisch sprechen mich die Kraftklubber ungemein an, ist der Stil doch sehr gefällig und wunderbar poppig. Mitspringen und -grölen beim nächsten Besuch in der "Scheissindiedisco" ist garantiert.

DIE FORMEL
[(K.I.Z. x The Hives) / Buddy Holly] + eine Prise Harald Schmidt

digital : hier

7/10

Vielen Dank fürs Lesen,
Listen Long and Prosper!

KRAFTKLUB - "Zu Jung"

KRAFTKLUB - "Liebe"


Dienstag, 18. Oktober 2011

Casper - "XOXO"

INFORMATIV
Hält man die Platte in den Händen ist von vorne herein klar, dieses Album ist eine Ansage. Auf dem Plattencover ein weisser Wolf mit flätschenden Zähnen: hier werden keine Kompromisse gemacht, Angriff ist die beste Verteidigung! Zusätzlich umraunte schon vorab die Musikpresse das Release, der obligate Internethype tat auch sein übriges dazu. Der Konsens von allen Seiten: "Da kommt was grosses auf uns zu."
Casper ist ein 26 jähriger Rapper, aufgewachsen zwischen Bösingfeld und Augusta (Georgia). In der deutschen Rap Subkultur ist er einschlägig Informierten schon längst ein Begriff und nun mit diesem Release auf FOUR Records wird er wohl den Transfer in den Mainstream, oder ähem... sagen wir: "in das kollektive Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit" schaffen.

OBJEKTIV
Casper und Band verkörpern eine neue Permutation im deutschen HipHop. Nicht nur wird das grassierende Gangstergetue von einer neuen Introspektive und Selbstreflektion abgelöst, auch musikalisch hat sich einiges geändert. So gibt es in der Überzahl der Songs auf XOXO das klassische Garagenbandtrio Gitarre, Bass und Schlagzeug zu hören. Die Features wurden sichtlich handverlesen, so senden die Auswahl eines Thees Uhlmann oder Marteria schon klare Signale wo man sich zugehörig fühlt. Liegt das Werk nun endlich im Plattenspieler, wird schon nach kurzem hören klar, dass einzig und allein Caspers Sprachgebrauch die Genrezugehörigkeit ins HipHop-Lager bestimmt. Würde man den Frontmann aus der Gleichung substrahieren, könnte man es auch mit einer begaben Indieband zu tun haben. So steht und fällt das Konstrukt Casper mit dem Frontmann und Rapper Casper.

SUBJEKTIV
Ja ich bin tatsächlich begeistert. Die energievoll vorgetragene, etwas aggressive Art und Weise die Worte aus dem Mund ins Mikrofon zu transportieren, das muss einem Gefallen. Ist das der Fall, kann man sich der Schönheit der ausgewählten Gitarrensounds widmen, welche mich persönlich ins Schwelgen bringen.
"Blut sehen" ein klassischer HipHop Track mit scheppernd-wummerndem Beats und einfachem Drumpattern baut Spannung mit einer unheimlich dichten Atmosphäre in den Strophen auf. Diese entlädt sich im Refrain, genannt Hook im HipHopgenre, mit einer schimmernd-brodelnden Noisewand hinter dem Beat. Die martialischen Lyrics über sozialen ungehorsam und die kongeniale gedankliche Assoziation zu Gladiatorenkämpfen im Kontext tun ihr übriges dazu: Aufgeputscht prescht das Adrenalin durch den Körper. Egal ob in der Strassenbahn oder beim Sport, man fühlt sich übermenschlich gross. Fantastisch!

"Michael X" mein Favorit. Vielleicht für immer. Was für ein wahnsinnig berührendes Stück Musik über Freundschaft, Zusammenhalt, Treue, männliche Testosterongloria und Verlust. Eine kleine Klaviermelodie hält das Stück zu Beginn zusammen, dann ätherische Gitarren und ein militärisch anmutendes Drumpattern (zum letzten Geleit?) prägen die Atmoshphäre. Absolutes Highlight für mich ist die Zeile "...du warst der Bruce für unsere kleine E-Street-Band...". So vermeintlich einfach kann man umschreiben, was ein Mensch einem selbst bedeutet. Und doch ist es unendlich raffiniert. Bruce, The Boss, Springsteen. Das ewige Idol der US-amerikanischen Arbeiterklasse, einer der für dich da ist, nie abgehoben, immer das Herz am rechten Fleck. Er versteht dich, geht mit dir auf ein Bier, du heulst dich an seiner Schulter aus über deine Existenzängste und er verwandelt deine Geschichte in eine Hymne für alle denen es genauso geht. Eben einer zum Pferdestehlen. Wollen wir nicht alle so einen zum Freund haben? Sehr raffiniert, sehr berührend dieser Vergleich, Mr. Casper. Chapeau!

Aber es gibt auch schwächere Tracks auf dem Album, allen voran das Feature mit Marteria "So Perfekt". Grösstenteils wird in diesem Song die Erfolgsformel beibehalten, aber im Refrain wird es mir persönlich etwas zu poppig, als ich es mir von Casper wünschen würde. Plötzlich wird die Produktion um Hall und merkwürdige Synthesizer und/oder Keyboardflächen angereichert und irgendwie fühle ich mich peinlich berührt. Dazu noch ein leises, verhalltes "heeeyyyyy!" im Hintergrund.... Eine Stilblüte dieser Refrain. 

DIE FORMEL
Interpol + Kool Savas - Gangsterattitude - Grössenwahn + Introspektive á la Trent Reznor

8/10

Vielen Dank fürs lesen,
Listen Long and Prosper!

John


physisch : hier
digital : hier


Casper - "Michael X"

 Casper - "Blut sehen"